Kammerorchester zürich
1920 – 1943
Gründung 1920
Im Herbst 1919 gründete Alexander Schaichet das Kammerorchester Zürich, das im Jahr 1920 auf Anregung von Hermann Reiff, Präsident der Tonhalle-Gesellschaft Zürich, als Verein konstituiert wurde. Mit seinem Orchester, dem ersten dieser Gattung in der Schweiz, brachte Alexander Schaichet von 1920 bis zu seiner Auflösung im Jahre 1943 in der Tonhalle Zürich regelmässig im Jahr drei Konzerte zur Aufführung, dazu verschiedene Extrakonzerte. Weitere Konzerte fanden in der Kirche St. Peter, im Grossmünster, im Fraumünster aber auch in anderen Städten der Schweiz statt.
Mit seinem Orchester vermittelte Alexander Schaichet wesentliche Impulse für alle nachfolgenden Formationen dieser Art in der Schweiz, insbesondere für das 1926 gegründete Basler Kammerorchester und das 1941 ins Leben gerufene Collegium Musicum Zürich.
Die Gründung des Kammerorchesters Zürich war eine bemerkenswerte Pioniertat, war es doch nach dem «Orchestre des Concerts Golschmann Paris» (1919) weltweit erst das zweite Orchester überhaupt, das sich ausschliesslich der Kammerorchesterliteratur widmete.
Entdeckung Alter und Neuer Musik
Alexander Schaichet setzte sich mit grossem Engagement für neue Musik ein. Er wollte mit dem Kammerorchester Zürich Werke zu Gehör bringen, die „selten gehört, nie aufgeführt oder besonders wertvoll“ waren, wie er an der Gründungsversammlung erklärte. Ausserdem wollte er für kleinere Besetzungen geschriebene Kompositionen alter und neuer Meister aufführen.
Nicht weniger als 51 Ur- und 215 Erstaufführungen prägten in der Folge die Konzertprogramme. Schaichet erschloss mit dem Kammerorchester Zürich Werke Alter Musik von Monteverdi bis zu Karl Stamitz. Der zweiten Generation von Schweizer Komponisten des 20. Jahrhunderts wie Robert Blum, Paul Müller-Zürich, Willy Burkhard, Albert Moeschinger bot er mit dem Ensemble eine wichtige Möglichkeit ihre Werke bekannt zu machen. Unter den Aufführungen internationaler Komponisten der Zeit befanden sich Namen wie Paul Hindemith (1930), Béla Bartók (1927), Ernst Krenek (1930) und Max Reger (1922), Edvard Grieg (1920), Leo Weiner (1920), Maurice Ravel (1921), Anton Arensky (1921), Alexander Glazunov (1921), deren Werke er regelmässig aufführte, sowie Paul Juon (1920), Darius Milhaud (1927), Ernst Toch (1927) und viele andere mehr. Mit der Erstaufführung von Béla Bartóks „Drei Dorfszenen, für vier Frauenstimmen und Kammerorchester“ im Jahr 1927 − seine Ehefrau, die ungarische Pianistin Irma Schaichet-Löwinger, hatte 1917 in Budapest bei Béla Bartók das Klavierdiplom erworben − brachte Alexander in Zürich nie aufgeführte Musik zu Gehör.
Das Kammerorchester Zürich führte 1937 Béla Bartóks «Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta» auf, 1941 das «Divertimento für Streichorchester» und zur Feier des 60. Geburtstages von Béla Bartók an einem Extrakonzert im April 1941 viele seiner Lieder.
Junge Musiker und zeitgenössische Komponisten
Das Kammerorchester Zürich bestand aus ungefähr dreissig Streicherinnen und Streichern, die meisten von ihnen von Alexander Schaichet ausgebildet. Bläser wurden aus dem Tonhalle-Orchester Zürich oder dem Musikkollegium Winterthur zugezogen. Die Förderung junger Musiker und zeitgenössischer Komponisten war ein zentrales Anliegen von Alexander Schaichet. Er regte aktiv zu neuen Kompositionen an und stand mit vielen zeitgenössischen Schweizer Komponisten in regem Austausch. Gute Beziehungen von Alexander Schaichet zu renommierten Musik-Verlagen wie Schott und Bärenreiter, sowie zu Musikern und Musikwissenschaftlern, die er aus seiner Leipziger Studienzeit kannte, ermöglichten eine umfangreiche und vielfältige Konzerttätigkeit. Verschiedene Komponisten widmeten Alexander Schaichet und seinem Kammerorchester Zürich ihre Werke, so etwa Robert Blum, Meinrad Schütter, Willy Burkhard, Antal Molnár und Theodor Diener.
Die Förderung junger Solistinnen und Solisten, oft zusammen mit seiner Ehefrau Irma, war ihm ein grosses Anliegen.
Die Pianisten Annie Fischer (1914-1995), Georg Solti (1912-1997) und Rudolf am Bach (1919–2004), die Sängerinnen Elisabeth Gehri (1917–1977) und Maria Stader (1911–1999) machten später eine grosse Karriere.
1952 erhielt Alexander Schaichet von der Stadt Zürich eine Ehrengabe „für hervorragende Förderung der schweizerischen musikalischen Jugend“.
1962 verlieh die Stadt Zürich Alexander Schaichet die Hans Georg Naegeli-Medaille in Anerkennung seiner hohen Verdienste um Zürichs Musikleben.
Konzert- und Orchesterliteratur
Die Gründung des Kammerorchesters Zürich fiel in eine Zeit des Aufbruchs, sowohl im Bereich der Barockmusik als auch zeitgenössischen Musik. In der Barockmusik waren es auf die Aufführung ausgerichtete, Urtext Editionen von Musikwissenschaftlern wie Fritz Stein oder Arnold Schering, die regelmässig in Konzerten des Kammerorchesters Zürich mit Werken von Manfredini, Corelli, Locatelli, Torelli, Johann Christian Bach und anderen Eingang fanden.
Auch die Werke von Georg Friedrich Händel wurden dank der damals pionierhaften Chrysander-Ausgabe vom Kammerorchester Zürich gepflegt. Gleiches gilt für Johann Sebastian Bach, dessen Kantaten und Orchesterwerke durch die Bachgesellschaft schon teilweise erschlossen waren. Die Bemühungen des Kammerorchesters Zürich um eine für damalige Zeiten neuartige Aufführungspraxis spiegelte sich in der Verwendung des Cembalos. War es am Anfang noch das von Wanda Landowska propagierte grosse Pleyel-Cembalo, so wechselte man ab 1935 auf dasjenige von Neupert, das neuesten Erkenntnissen im Cembalobau entsprach. So leistete Alexander Schaichet auch in Hinsicht auf "historisch informierte Aufführungspraxis" Pionierarbeit.
Die Entwicklung in der Neuen Musik führte vom grossen romantischen Orchester weg zu kleineren Formationen. Hier ergab sich für das Kammerorchester Zürich eine enge Zusammenarbeit mit dem Schott-Verlag, der diese Entwicklung mit der Herausgabe von Werken aufstrebender Komponisten wie Ernst Toch, Manuel de Falla, Alexander Tscherepnin, Rudi Stephan, Bernhard Sekles und anderen förderte und welche kontinuierlich vom Kammerorchester Zürich gespielt wurden.
Ein Höhepunkt in der Geschichte des Kammerorchesters war die Aufführung von Manuel de Fallas Marionetten-Kurzoper «El retablo de Maese Pedro» mit Dekorationen von Otto Morach im Rahmen des IV. Festes der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik in Zürich im Juni 1926. In den Folgejahren wurden noch mehrere Kurzopern von Hindemith, Toch und Milhaud aufgeführt.
Politische Entwicklungen in Deutschland
Eine einschneidende Zäsur für das Kammerorchester Zürich war das Jahr 1933 mit der Machtübernahme Adolf Hitlers in Deutschland. Jüdische Komponisten wie Sekles oder Toch mussten emigrieren, ebenso jüdische Solistinnen wie die Berliner Cembalistin Alice Ehlers, die mehrfach mit dem Kammerorchester Zürich aufgetreten war. Der Musikwissenschaftler Fritz Stein, den Alexander Schaichet aus seiner Zeit in Jena sehr gut kannte und mit dem er sich regelmässig ausgetauscht hatte, wurde NSDAP-Mitglied. Wolfgang Fortner, bisher gern gesehener Gast beim Kammerorchester Zürich, arrangierte sich ebenfalls mit den neuen Machthabern. Der Pianist Walter Gieseking verleugnete ab 1939 seine langjährige Freundschaft mit dem Ehepaar Schaichet. Eine Zusammenarbeit mit deutschen Musikern war von diesem Zeitpunkt an daher kaum mehr möglich.
Damit entfielen für das Kammerorchester Zürich auch viele Quellen und Netzwerke zu Neuer Musik. Die Möglichkeiten, Noten zu beschaffen, waren stark eingeschränkt. Neben der Pflege Alter Musik entdeckte Schaichet dafür ein neues Betätigungsfeld, nämlich die Förderung des Schweizer Musikschaffens. Hier gehörte das Kammerorchester Zürich zur treibenden Kraft, vor allem bei der jungen Generation wie Robert Blum (1900–1994), Luc Balmer (1898–1996), Meinrad Schütter (1910–2006), Walther Geiser (1897–1993), Paul Müller-Zürich (1898–1993), Albert Moeschinger (1897-1985), Rudolf Moser (1892–1960), Willy Burkhard (1900-1955), Huldreich Georg Früh (1903–1945) und weiteren.
Von Albert Moeschinger, Paul Müller-Zürich, Willy Burkard, Rudolf Moser und vielen weiteren Komponisten gab es wichtige Uraufführungen. Am 23. November 1933 wurde Albert Moeschingers «Purcell-Variationen» op. 32 für Streichorchester, Pauken und kleine Trommel uraufgeführt, am 24. Januar 1935 Paul Müller-Zürichs „Concerto f-Moll für Viola und kleines Orchester op. 24“ und Rudolf Mosers „Konzert für Bratsche und Kammerorchester op. 62“. Am 30. März 1939 erlebte Willy Burkhards «Toccata für Streichorchester» op. 55 durch das Kammerorchester Zürich seine Uraufführung. Alle diese Komponisten waren mit zahlreichen weiteren Werken beim Kammerorchester Zürich präsent.
Finanzielle Schwierigkeiten und Auflösung 1943
Doch trotz der Erfolge des Kammerorchesters Zürich wurden die finanziellen Probleme ab Mitte der 1930er-Jahre immer belastender. Mit dem Tod, 1937, des langjährigen Mäzens und ehemaligen Präsidenten des Tonhalle-Orchesters Hermann Reiff und der finanziellen Zurückhaltung Werner Reinharts nach Kriegsausbruch fielen zwei wichtige Geldgeber weg.
Beim Musikprogramm der Schweizer Landesausstellung 1939 wurden Alexander Schaichet und das Kammerorchester Zürich zu deren Enttäuschung übergangen.
Eine Konkurrenz erwuchs dem Kammerorchester Zürich 1941 durch die Gründung des «Collegium Musicum Zürich» durch Paul Sacher. Dieser konnte dank seinen finanziellen Möglichkeiten die Orchester-Musikerinnen und -Musiker erstmals angemessen entlöhnen. Wichtige Musikerinnen des Kammerorchesters Zürich wie etwa Stefi Geyer und Else Stüssi, wechselten daraufhin zum neuen Orchester.
Letzte Versuche von Alexander Schaichet zu einer zeitgemässen Finanzierung seines Orchesters d.h. zur Entlöhnung seiner Musikerinnen und Musiker scheiterten. Nach zwei weiteren Konzertsaisons mit Uraufführungen der Schweizer Komponisten Walther Geiser, Walter Lang, Rudolf Wittelsbach, Albert Jenny, Paul Müller-Zürich und Richard Sturzenegger löste Alexander Schaichet sein Kammerorchester Zürich im Frühling 1943 auf.
In der Folge wirkte Alexander Schaichet bis zu seinem Tod im Jahr 1964 erfolgreich als Leiter der Violinausbildungsklassen an der Musikakademie Zürich und prägte als gefragter Musikpädagoge Generationen von Geigern und Geigerinnen.